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Trauerzug für einen Gletscher

Das “Mer de Glace” im Mont-Blanc-Massiv ist der größte Gletscher Frankreichs und der viertgrößte Gletscher der Alpen - und er schmilzt.
Der Gletscher Mer de Glace im Mont-Blanc-Massiv
Ein Blick auf den Gletscher Mer de Glace im Mont-Blanc-Massiv, aufgenommen an Ostern 2022.

Am Oster-Wochenende unternahmen wir einen Ausflug nach Chamonix, eine kleine Stadt am Fuß des Mont Blanc. Wir wollten die Stadt besichtigen, in der Sonne sitzen - und wir wollten einen Ausflug zu einem sterbenden Gletscher unternehmen.

Das “Mer de Glace”, zu Deutsch “Eismeer”, ist der größte Gletscher Frankreichs und der viertgrößte Gletscher der Alpen. Er liegt etwas oberhalb von Chamonix und lässt sich mit der Montenvers-Zahnrad-Bahn und einer kleinen Gondel recht leicht erreichen. Eine Besonderheit ist die Eishöhle in der Gletscherzunge, in der man den Gletscher von innen sehen kann.

Wenn man die Berg-Bahn und die Gondel nimmt, steht man an dem Punkt, wo der Gletscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts war. Von da an begibt man sich auf einen Weg, der eigentlich eher ein Trauerzug ist: Man geht mehr als 500 Treppenstufen hinab, um die Gletscherspitze zu erreichen. Dieser Abstieg dauert knapp eine halbe Stunde und ist ein “Walk of Shame” für die Menschheit. Immer wieder sind am Fels Tafeln angebracht, die vom Stand des Gletschers in einem bestimmten Jahr berichten. Die Tafel für das Jahr 1990 kommt sehr weit oben, nach nur rund 5 Minuten Weg. Kurz darauf kommen 2000, 2003, 2005, …

Die Zunge des Gletschers Mer de Glace im Mont-Blanc-Massiv
Ein Blick auf das Ende des Mer de Glace, aufgenommen an Ostern 2022.

Immer weiter steigt man die Treppen hinab und begibt sich in ein Gebiet, das noch vor 30 Jahren mit Eis bedeckt war. Insgesamt geht man rund 20-25 Minuten, bis man endlich an der Zunge des Gletscher steht.

Zu den 500 Treppenstufen kommen jährlich rund 30-40 neue Stufen - so viele sind nötig, um bei dem beständigen weiteren Abschmelzen des “Mer de Glace” weiterhin an dessen Zunge anzukommen. Blickt man zurück auf die Treppen-Konstruktion wird einem sehr deutlich vor Augen geführt, welche dramatischen Folgen der Klimawandel hat.

Wenn man am Fuß des “Mer de Glace” steht, kommt es einem nicht mehr wie ein Eismeer vor. Die Sonne scheint, man hört wie das Eis schmilzt und tropft. Am Eingang der Höhle in den Gletscher gibt es eine Dach-Konstruktion, die die Besucherinnen und Besucher vor herabfallenden Tropfen schützen soll. Das klappt nicht immer, an zu vielen Stellen schmilzt der Gletscher - und als ein Tropfen seinen Weg in meine Jacke findet, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Zuhause suche ich nach historischen Bildern des “Mer de Glace” und sehe, wie es tatsächlich einmal ein Meer aus Eis und Schnee war. Ich vergleiche die Bilder und stelle fest, dass die eigentliche Gemeinsamkeit die umliegenden Berge sind - der Gletscher selbst ist heute kaum wiederzuerkennen.

Der Ausflug an das “Mer de Glace” hat mir die Dimension der Klima-Krise vor Augen geführt. Bei Berichten über Erwärmung im Zehntel-Grad-Bereich, über Projektionen bis zum Ende des Jahrhunderts oder über “parts per million” CO2 in unserer Atmosphäre gibt es keinen Maßstab in unserem Alltag, der das Ausmaß der Veränderungen verdeutlicht. Als ich an einem schmelzenden Gletscher stehe und daran denke, wo bis vor dreißig Jahren noch nichts als Eis war und heute nur kahler Fels ist, dann wird dies auf einmal sehr, sehr deutlich.

Der Gletscher Mer de Glace im Mont-Blanc-Massiv
Eine Überquerung des Mer de Glace, anonymer Fotograf zwischen 1902 und 1904. Zentralbibliothek Zürich.
Der Gletscher Mer de Glace im Mont-Blanc-Massiv
Carl Ludwig Hackert: ‘Vuë de la Mer de Glace et de l’Hopital de Blair du Sommet du Montanvert dans le mois d’Aoust 1781’, 1781. Schweizer Nationalbibliothek